Kulturwissenschaftler, Philosophen, Althistoriker und Altphilologen kritisieren das „christlich-abendländische Geschichtsbild“ vor allem deshalb, weil es den entscheidenden Beitrag der Antike ignoriert. Europa, sein demokratisches Modell und seine Kultur seien ohne Athen und Rom gar nicht vorstellbar, erklären sie. Zudem dürfe man nicht übersehen, dass Europas Kulturlandschaft maßgeblich auch von der islamisch-arabischen Zivilisation geprägt wurde, die zwischen dem 8. und 14. Jahrhundert ihre Blütezeit erlebte. Griechisch, römisch, christlich, jüdisch, islamisch: Da gibt es offenbar einiges aufzuräumen! Und dabei haben wir hier die Aufklärung mit ihren wichtigen politischen und humanitären Impulsen noch gar nicht erwähnt!
Ist es denn wirklich dem Christentum zu verdanken, dass wir Westeuropäer heute in einer der friedlichsten und stabilsten Regionen leben, die es in der Menschheitsgeschichte je gegeben hat?
Die Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts leitete die politischen Revolutionen für Freiheit, Mitbestimmung und Menschenrechte ein. Ihre Formel lautete: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Einem Dammbruch gleich riss sie Löcher in die Deiche, an denen viele Jahrhunderte gebaut worden war, und führte neue Werte als Legitimationssäulen politischer Herrschaft in die Verfassungen ein – gegen den massiven Widerstand der christlichen Kirchen, die die Prinzipien der Demokratie, der Gewaltenteilung und der individuellen Selbstbestimmung bis ins 20. Jahrhundert hinein als Verstöße gegen die „göttliche Ordnung“ zurückwiesen.
Die Werte der Aufklärung bilden bis heute das politische und humanitäre Rückgrat unseres Lebens in demokratischer Freiheit. Hier, in der Aufklärung, wird die Botschaft vom freien, selbst verantwortlichen Individuum geadelt, hier werden die bisherigen metaphysischen und religiösen Bindungen und die Jahrtausende alte Klammer von Heil, Unheil und Herrschaft gelöst.
Hier beginnt Europa, den Verstand und die Sinne zu gebrauchen, ohne sich auf Glaubenskrücken zu stützen. Von nun an steht der Mensch im Mittelpunkt des Geschehens und nicht Gott. DAS ist der Geist, der Europa Ausstrahlung verleiht.
Zu wirklicher Blüte jedoch kommt das aufklärerische Erbe erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts – nach dem Niedergang der nationalistischen Wahnideen und zwei verheerenden Weltkriegen, in die die Deutschen noch unter dem Banner „Mit Gott und dem Kaiser!“ bzw. „Mit Gott und dem Führer!“ gezogen waren. Nach dem zweiten Weltkrieg geraten die traditionellen religiösen Werte immer stärker unter Druck. Die Frauenbewegung setzt sich gegen die in den „heiligen Schriften“ vorgegebene Vormachtstellung des Mannes zur Wehr, und die alten „christlichen Sittlichkeitsparagraphen“ (etwa der „Kupplerparagraph“, der die Bereitstellung von Räumen für „unzüchtige Handlungen“ unter Unverheirateten unter Strafe stellte, oder der „Anti-Schwulenparagraph“ 175 StGB) werden aus dem Strafrecht gestrichen.
Sucht man nach den Ursprüngen der europäischen Kultur, stößt man auf drei wesentliche Quellen: die Antike, die vermittelnde islam-arabische Hochkultur und die Aufklärung. Gestützt auf die Prinzipien der Wissenschaft und der Vernunft, der Gleichheit der Menschen und der Freiheit des Individuums, hat unsere heutige Kultur wenige Wurzeln im religiösen Judentum, nur schwache im Christentum, aber mächtige Rezeptionsstränge zur Antike.
Unbestreitbar ist, dass das Christentum Europa als Spartenkultur (man denke etwa an die gotischen Dome) geprägt und die europäische Geschichte mehr als ein Jahrtausend lang bestimmt hat. Die wissenschaftlich-geistige und politisch-kulturelle Entwicklung wurde dadurch jedoch sehr viel stärker behindert als gefördert. Zwar haben ab dem 13. Jahrhundert auch christliche Theologen, etwa die Renaissance-Humanisten, an der „Wiedergeburt Europas“ mitgewirkt, doch ihre maßgebliche Leistung bestand darin, die europäische Kultur von einer Last zu befreien, die es ohne das Christentum gar nicht erst gegeben hätte.
Vom „christlichen Abendland“ lässt sich daher vernünftigerweise nur in der Vergangenheitsform sprechen, etwa im Hinblick auf die „Klosterkultur des Mittelalters“. Die geistige, wissenschaftliche und gesellschaftliche Weiterentwicklung Europas seit der Renaissance jedoch beruht nicht auf „christlichen Werten“, sondern vielmehr auf der zunehmenden Befreiung von diesen „Werten“.
Der vielfach befürchtete „Untergang des christlichen Abendlandes“ hat also längst stattgefunden – und das ist auch gut so! Denn nur so konnte der moderne Rechtsstaat entstehen, in dem jeder Einzelne über sein Leben selbst bestimmen kann, ohne dabei von „religiösen Autoritäten“ gemaßregelt zu werden.
Weitere Informationen zum Thema finden Sie in der „Abendland-Trilogie“ von Rolf Bergmeier:
„Kaiser Konstantin und die wilden Jahre des Christentums“
„Schatten über Europa: Der Untergang der antiken Kultur“
„Christlich-abendländische Kultur. Eine Legende“
„Die Legende vom christlichen Abendland“, Rolf Bergmeier und Dr. Michael Schmidt-Salomon, herausgegeben als
» Broschüre von der Giordano-Bruno-Stiftung (pdf)
gekürzte und leicht überarbeitete Fassung